Historische Geschichten und Figuren sind seit den Anfängen des Films beliebter Stoff. Bereits im frühen 20. Jahrhundert wurden aufwendige Monumentalfilme gedreht, die historische Begebenheiten nacherzählten, wie etwa D. W. Griffiths «Die Geburt einer Nation» (1915). Und die filmischen Geschichtslektionen hatten schon damals Erfolg.
Auch heute trifft historischer Stoff den Nerv der Zeit. Entsprechende Serien bilden innert kurzer Zeit grosse Fangemeinden – egal, welche Epoche der Weltgeschichte darin unter die Lupe genommen wird. Sei es der britische Adel im 16. Jahrhundert in «Die Tudors», zu Beginn des 19. Jahrhunderts in «Bridgerton» oder im 20. Jahrhundert in «Downton Abbey» und «The Crown» – alles äusserst erfolgreiche Produktionen.
Die Aufzählung liesse sich beliebig fortsetzen. Und natürlich sind es nicht immer nur Inhalte mit britischem Hintergrund, die für Aufsehen sorgen – obwohl eine Häufung ebendieser nicht von der Hand zu weisen ist: Man denke an «Poldark», «Peaky Blinders» oder «The Last Kingdom»). Nein, auch die Germanen zur Römerzeit («Barbaren»), chinesische Immigranten in San Francisco während des Goldrauschs («Warrior») oder die russische Herrscherin Katharina die Grosse («The Great») haben mittlerweile eine eigene Serie.
Fügt man dem historischen Setting eine Prise Fantasy hinzu, tut dies dem Erfolg keinen Abbruch. Egal, ob Zeitreisen ins Schottland der 1740er-Jahre in «Outlander», übernatürliche Ereignisse im ländlichen Indiana in den 1980ern in «Stranger Things» oder Vampire im viktorianischen London in «Penny Dreadful» (siehe unten) – Historie und Fantasy scheint eine Dauerbrenner-Kombination zu sein.
Auch die jüngste HBO-Produktion «The Nevers» bedient sich dieses Rezepts. Angesiedelt in London während den letzten Jahren von Königin Victorias Herrschaft, dreht sich die Serie um Frauen mit speziellen Fähigkeiten: die «Berührten».
Zu ihnen gehören die mysteriöse und schlagfertige Witwe Amalia True (Laura Donnelly) und ihre Freundin, die romantisch veranlagte Erfinderin Penance Adair (Ann Skelly). Sie gehören einer Art neuer Unterklasse an, die in erster Linie um das eigene Überleben kämpfen muss. Unterstützung aus der Oberschicht kommt lediglich von der wohlhabenden Lady Lavinia Bidlow (Olivia Williams).
Was die «Berührten» so besonders macht, sind ihre Fähigkeiten. Diese reichen von perfektem Beherrschen diverser Kampfkünste bis hin zur Kontrolle über Feuer, Wasser oder Materie.
Amalia und Penance streben danach, ihre erlesene Gruppe stetig zu vergrössern und den gesellschaftlich abgeschobenen Frauen ein Zuhause zu bieten. Denn einige der «Berührten» fristen ein trostloses Leben als Kleinkriminelle oder haben ihre Kraft noch gar nicht entdeckt.
Bereits 2015 hatte Serienschöpfer Joss Whedon («Buffy – Im Bann der Dämonen», «The Avengers») die Idee, einen «viktorianischen, weiblichen Batman» zu erschaffen. Ein Projekt, das bis heute auf Eis liegt. Stattdessen entwickelte er mit «The Nevers» eine Art historisierte, weibliche X-Men-Truppe – um bei der Superhelden-Allegorie zu bleiben. «Der Gedanke, dass manche Menschen nicht einer natürlichen Ordnung angehören, fasziniert mich», verrät Whedon. Zweieinhalb Jahre lang widmet er sich der Ausarbeitung dieser Idee, bis er im November 2020 das Produktionsteam verlässt. Die Arbeit an «The Nevers» – bei drei Episoden führte er auch Regie – während der Corona-Pandemie habe ihn erschöpft. Verständlich, denn es wird gemunkelt, dass «The Nevers» einen riesigen Produktionsapparat mit sich zieht und kein Aufwand gescheut wird.
Um sämtliche weiteren Informationen zu Produktion oder Inhalt machen Sky und HBO ein grosses Geheimnis. Man wird also gespannt auf die Veröffentlichung der sechs ersten Episoden warten müssen.
Eine Schar Superheldinnen in London wehrt sich in «The Nevers» gegen allerlei Ungemach.
Joss Whedons neue Serienschöpfung erzählt von Aussenseitern, starken Frauen mit übernatürlichen Gaben und zahlreichen weiteren, zuweilen brandaktuellen Themen. Eine hervorragende Ausgangslage für gepfefferte Statements und einen neuen, interessanten Serienkosmos.
Schauplatz ist das viktorianische London. Seit einem kuriosen kosmischen Ereignis haben Hunderte Frauen und einzelne Männer spezielle Fähigkeiten – sie können etwa den Energiefluss kontrollieren oder in die Zukunft sehen. Für die Gesellschaft sind die «Berührten» kranke Aussenseiter, weshalb sich viele von ihnen in einem von Amalia True (Laura Donnelly) geleiteten Waisenhaus zusammenschliessen. Amalias Mission ist es, den «Berührten» ein normales Leben zu ermöglichen, wobei sich zahlreiche Gegenspieler herauskristallisieren.
Natürlich ist der Plot viel komplexer, als hier dargestellt – und genau das wird ihm zum Verhängnis. Sind einige Wendungen wahrlich überraschend und auch spannend, sind andere schlicht zu verwirrend. Hinzu kommt, dass immer wieder neue Figuren auftauchen, die für mehr Chaos sorgen und deren Beweggründe teilweise alles andere als nachvollziehbar sind.
Das Set-Design macht indes viele inhaltliche Mängel vergessen. Opulente Kostüme, stimmige Locations und aberwitzige Steampunk-Maschinen: Um dem Auge zu schmeicheln, wurde nicht gespart. Und auch bei den Darstellern gibt’s positive Überraschungen – für die mediokren Dialoge können sie ja nichts.
Man muss konstatieren: Die tolle Ausgangslage wurde in einigen Punkten in den Sand gesetzt, und die diversen Themenstränge ergeben ein nicht vollständig ausgereiftes Gesamtpaket. «The Nevers» ist aber trotzdem packend, sodass sich das Warten auf die wöchentlich veröffentlichten Episoden allemal lohnt.
Sky Show | Sci-Fi-Serie | 1. Staffel |
Mit Laura Donnelly, Ann Skelly, Olivia Williams, Nick Frost; Showrunner: Philippa Goslett
Verspricht ein kostümiertes Spektakel der Extraklasse
ab 12. April
19. Jahrhundert goes Fantasy