Wie sind wir zu den Menschen geworden, die wir heute sind? Diese philosophische Frage nehmen die Macher der ZDF-Dramaserie «Gestern waren wir noch Kinder» ins Visier. Die Suche nach der Antwort tragen sie der Familie Klettmann auf. Diese wohnt in einem schicken Münchner Vorort, wo finanzielle Probleme kein Thema sind. Papa Peter (Torben Liebrecht) ist ein erfolgreicher Anwalt mit eigener Kanzlei, und Ehefrau Anna (Maria Simon) steckt ihre Zeit und Energie hingebungsvoll in die drei gemeinsamen Kinder und das Haus.
Das Leben ist perfekt – bis an Annas 44. Geburtstag die ganze Idylle und die heile Welt der Familie wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt: Peter tötet in der Küche seine Frau, ruft die Polizei und lässt sich widerstandslos verhaften. Was hat Peter dazu bewogen, seine grosse Liebe nach dem gemeinsamen Frühstück zu erstechen? Das erschliesst sich vorerst niemandem. Auch die Tatsache, dass der Familienhund Bruno seit der Tat verschwunden ist, gibt den Ermittlern um Polizist Tim Münzinger (Julius Nitschkoff) sowie den drei Kindern Rätsel auf.
Während Peters Motiv erst durch das Eintauchen in seine Vergangenheit langsam Gestalt annimmt, ist das sorglose Leben der Kinder von einem Tag auf den anderen vorbei. Die 18-jährige Vivi (Julia Beautx) tickt erst mal komplett aus, ehe sie sich in den Kampf um das Sorgerecht für ihre minderjährigen Geschwister stürzt.
Mit viel Bedacht erzählt der Dreiteiler eine Liebesgeschichte, die einen weitaus vielschichtigeren Einblick in das Seelenleben der Figuren gewährt als vergleichbare TV-Produktionen. Die Reihe, laut ZDF «ein Genre-Mix aus Familienserie und Thriller», hat Tiefe und erscheint zunächst etwas widersprüchlich. «Als ich so alt war wie du, hatte ich schon vier Menschen auf dem Gewissen», hört man Peter zu Beginn der ersten Folge sagen. Die Worte, die er in einem Brief aus dem Gefängnis an seine Tochter Vivi richtet, scheinen so gar nicht zu dem Mann zu passen, der wenige Stunden zuvor am Küchentisch sass und sich freudestrahlend Geburtstagskuchen einverleibte.
Ob es sich bei Peter tatsächlich um einen eiskalten Serienkiller handelt, enthüllt der Plot nur Stück für Stück. So wird ein zunehmend klareres Bild der Figuren nachgezeichnet und erläutert, wie es zu den tragischen Geschehnissen im Hier und Jetzt kommen konnte. Gewöhnlich treibt die Handlung die Geschichte voran. Hier wird aus den Figuren heraus erzählt. Diese in zahlreichen Rückblenden als Kinder oder Heranwachsende zu erleben, hilft mit, ihr späteres Handeln besser zu verstehen.
Es ist ein geradezu tiefenpsychologischer Ansatz, der verfolgt wird: sei es Peters (in jungen Jahren verkörpert von Damian Hardung) zerrüttetes Verhältnis zum tyrannischen Vater (Ulrich Tukur) oder ein tiefsitzender Aberglaube, der Anna (in Jung: Rieke Seja) ihr ganzes Leben lang prägt und plagt. Kein Trauma und kein Trigger bleiben unerforscht.
Wie die Autorin Natalie Scharf auf die Idee zu dieser Geschichte kam, hat bezeichnenderweise ebenfalls mit ihrer eigenen Vergangenheit zu tun: «Ich wuchs auf dem Gelände einer Nervenheilanstalt auf – so nannte man das früher –, wo mein Vater als Psychiater arbeitete. Und so wurden beim Abendessen auch immer Fälle besprochen.» Nachdem die kleine Natalie eines Tages ihren Vater fragte, wie es passieren könne, dass man Stimmen höre, die gar nicht da seien, und der gewissenhafte Papa ihr antwortete, dass man einfach eines Morgens mit diesen Stimmen im Kopf aufwache, beschloss das Mädchen, nie mehr zu schlafen. Mit dem Resultat, dass es drei Tage später völlig übermüdet auf der Schulbank im Klassenzimmer einschlief und ihre Mutter daraufhin in die Schule zitiert wurde.
«Die Psyche und wie man die Kontrolle über sich verliert, das hat mich schon sehr früh beschäftigt», sagt Scharf. Heute sei sie dankbar – besonders als Produzentin und Autorin –, auf so viele Erfahrungen und Erlebnisse zurückblicken zu können.
Das ausgeklügelte Musikkonzept und der Wechsel zwischen den Zeitebenen, für die jeweils eine eigene Bildsprache gefunden wurde, helfen dabei, sich zeitlich stets auf Anhieb zurechtzufinden. Zudem bleibt vieles bis ganz zum Schluss nebulös, was die Zuschauerinnen und Zuschauer bei der Stange hält. Dass zu Beginn der ersten Folge die Erzählung noch etwas holprig und zäh daherkommt und das eine oder andere Verhaltensmuster einiger Figuren eher schwer nachvollziehbar ist, wird wohl auf bestimmte Startschwierigkeiten zurückzuführen sein – ist aber aufs ganze Werk gesehen nicht wirklich von Belang. Schon ab Folge 2 stellt sich Besserung ein.
Wie im Streaming-Zeitalter üblich, programmiert das ZDF die dreiteilige Serie als Event und strahlt die spielfilmlangen Folgen an drei aufeinanderfolgenden Abenden aus: von Montag, 9. Januar, bis Mittwoch, 11. Januar. Danach ist «Gestern waren wir noch Kinder» in der ZDF-Mediathek abrufbar.
ZDF-Mediathek | Dramaserie | 1. Staffel
Mit Julia Beautx, Torben Liebrecht, Damian Hardung, Ulrich Tukur, Nitschkoff
D 2022