Er kniet nur ganz kurz im Schnee, hält den Daumen hoch, hüpft aufs Brett und grinst breit unter seinem Helm hervor. «Ready?», fragt er und zieht dann locker eine um die andere Kurve durch den Schnee.
Schätzungsweise ist dies etwa das tausendste Mal, dass Arthur Honegger einen Tag auf dem Snowboard verbringt. Diesmal wird seine Fahrt für den Dok «Rebellen im Schnee – 40 Jahre Schweizer Snowboardkultur» gefilmt. Der 44-jährige Davoser hat den 50-Minüter für SRF produziert.
«In der Pandemie fragte ich mich: Was willst du noch machen im Leben?», erzählt er im Gespräch mit TELE. Schon lange war er überzeugt, es müsse endlich einen Film über die Snowboardszene in der Schweiz geben, ihre Entstehung und Entwicklung. «Ich habe mich immer gefragt: Warum macht das niemand?»
Und schliesslich beschloss er, das selbst in Angriff zu nehmen. «Ich ging zu meinem Freund Bruno Amstutz, der auch bei SRF arbeitet und weiss, wie man Geschichten in längeren Formaten erzählt.» Er habe zu ihm gesagt: «Dude, wir müssen diesen Film machen!» Bruno, ebenfalls Snowboarder, war sofort dabei.
Es folgten lange, aufwendige Arbeiten am Konzept, diverse Drehtage trotz Schneemangel und ein Marathon am Schnittplatz. Doch nun ist das Werk vollbracht, zwei Jahre nach der ersten Idee.
Der Dok unternimmt eine Zeitreise, die in den späten 70er-Jahren Fahrt aufnimmt. Damals, genauer 1977, entwickelte der Amerikaner Jake Burton eines der ersten richtigen Snowboards. Zwar gab es Vorläufer wie «Snurfer» oder «Winterstick», doch erst Burtons Brett setzte sich als Sportgerät durch. In Europa wurden ein paar wenige Schneefreaks aufmerksam, einer von ihnen war der Schweizer Paul Gruber. Er schrieb Jake Burton einen Brief und bat darum, so ein Snowboard kaufen zu dürfen – und wurde wenige Monate später zum ersten Erwerber eines Burton-Bretts ausserhalb der Vereinigten Staaten.
Anfang der 80er-Jahre kam das Snowboard dann bei uns auf den Markt und bei den Jugendlichen auf den Wunschzettel. Die Jugend war verrückt nach dem neuen Gefühl im Schnee: Statt in Reih und Glied hintereinander herzufahren, konnte man flüssige, lange Kurven ziehen, Jumps und Tricks ausprobieren.
Bei den Skifahrern war das neuartige Boarden verpönt. Der Skilift war für die Snöber denn auch vorerst verboten. Also stapften sie zu Fuss den Hang hoch. Die Snowboard-Legende José Fernandes erinnert sich augenzwinkernd im Dok: «Hätten wir die Liftwarte nicht mit Weinflaschen und Schoggi bestochen, wären wir bis heute nie auf den Skilift gekommen.»
Rund zehn Jahre später wurde dann auch Arthur Honegger vom Snowboardfieber gepackt. «Ich war von klein auf ein wirklich schlechter Skifahrer – und das als Bündner!» Jeden Mittwochnachmittag musste Klein Arthur in die Skischule, wo er in der Kolonne meistens der Hinterste war, auf den alle warten mussten, weil er so langsam oder wieder mal gestürzt war.
«Ich war 13, als ich Snowboarding entdeckte. Bei einem Kumpel hing in der Garage ein Crazy Banana – da wollte ich unbedingt auch so ein Brett.» Seine Eltern kauften ihm also ein Snowboard. Doch es war nur eine Occasion von Mistral – eigentlich zu lang und zu schwer für den Teenager. Egal.
«Anders als in der Skischule – mit vorgegebenem Tempo, in Reih und Glied – fuhr ich jetzt einfach irgendwo, irgendwie. Nicht immer auf der Piste, sondern quer runter, landete auch mal in irgendwelchen Bächen oder blieb stecken. Richtige Abenteuer, das pure Leben!»
Das Feuer fürs Boarden lodert noch heute im «10 vor 10»-Moderator. «Snowboarden ist kein Fidget-Spinner», also keine Modeerscheinung, die man nach einer Saison wieder vergisst. Snowboarden sei eine eigene Art, die Welt zu sehen. «Für mich ist es mehr als ein Sport», betont Honegger, «es ist stark mit meiner Identität verknüpft.»
Den Freestyle-Gedanken, den er beim Snowboarden, aber auch beim Skateboarden ausleben kann, sei ganz zentral dafür, wie er mit Leuten umgehe und auch wie er arbeite. «Viel vom Freestyle-Mindset fliesst in meine Arbeit bei ‹10 vor 10› ein.» Eine Moderation lasse sich nämlich mit einem Trick vergleichen. «Man muss sich aufs eigene Können verlassen, es aber immer wieder neu anwenden, kreativ bleiben und spontan reagieren, wenn etwas schiefgeht.» Diese Philosophie hat Honegger verinnerlicht, sie begleitet ihn und liegt ihm sehr am Herzen.
«Rebellen im Schnee» beschränkt sich aber nicht aufs Gefühl beim coolen Seitwärtscruisen durch den Powder, sondern arbeitet auch einen Zwist auf, der die Szene aufrieb und spaltete. Mitte der 90er wurde der Hype um den neuen Wintersport immer grösser, die Jungen stiegen massenhaft von Skis auf Snowboards um. Und der internationale Skiverband FIS merkte, wie ihm die Felle davonschwammen: Ski fahren war nicht mehr in, der Nachwuchs blieb aus.
Also beschloss die FIS, Snowboarding in den eigenen Verband zu integrieren. Künftig sollte es die FIS sein, die Events organisiert, Rennen ausrichtet – und vor allem bestimmt, wer an Olympischen Spielen teilnimmt. Das war ein Affront für überzeugte Boarder: Die Skifahrer wollten ihren Sport klauen! Das Powerplay der FIS brachte die International Snowboarding Federation ISF, den damaligen Verband der Snowboarder, in finanzielle Not – und führte zu seinem Ende.
Diese Story sei ein essenzieller Bestandteil des Dok, sagt Honegger. «Wer entscheidet? Wer macht die Regeln? Sind es jene, die zuerst da waren? Oder sind es die mit den besseren Beziehungen?» Der FIS/ISF-Knatsch steht exemplarisch für viele andere Entwicklungen, wo aus einer Subkultur ein Hype wird – eine Band, ein Start-up oder eben Snowboarden. Wie findet das Neue seinen Weg in den Mainstream? Auch sporthistorisch sei es wichtig, dass diese Geschichte erzählt wird. «Sie ist auch für die heutige Generation von Snowboardern aufschlussreich.»
Zum Snowboard-Nachwuchs zählen auch Arthur Honeggers Kinder: die 13-jährige Amélie und der 9-jährige Aatos. Beide fahren bereits seit Jahren Snowboard. Ein Tag mit ihnen im Schnee – das ist für Arthur Honegger das Paradies, wie er zu Beginn des Dok sagt. Was wäre denn, wenn seine Kinder einst auf Skis umsteigen möchten? «Das können sie gern machen, wenn sie das wirklich wollen», meint er. Und fügt grinsend an: «Die Tageskarte für die Bergbahn muss dann aber vielleicht mit dem Sackgeld finanziert werden.»
SRF1 | Dokumentarfilm
Mit Gian Simmen, Fabien Rohrer, José Fernandes, Paul Gruber
CH 2023, Donnerstag, 7. Dezember, 20.02 Uhr, SRF1