In der allerersten Einstellung der ersten Folge prangt der nackte, bildschirmfüllende Hintern eines Mannes, der mit Anlauf von einem Steg in den See springt und unbekümmert darin planscht.
Derselbe Hintern ist einige Szenen später erneut zu sehen: beim Sex mit einer Frau, die ganz offensichtlich nicht dazu eingewilligt hat.
Das nicht mehr ganz so knackige Gesäss gehört zu Carsten Andersen (Jens Albinus), einem etwas in Vergessenheit geratenen, 55-jährigen Rockstar, der sich um ein Comeback bemüht. Um ihm dabei zu helfen und um seinen Geburtstag zu feiern, richten seine Tochter Clara (Emily Cox) und seine Gattin Maren (Marie-Lou Sellem) eine Gartenparty für Carsten aus.
Obwohl nicht eingeladen, taucht auch Leonie (Paula Kober) als Gast am Fest auf. Die 32-jährige Sängerin ist Claras beste und älteste Freundin, seit Kindertagen brennender Fan von Carsten und seiner poetischen Musik – und, was niemand weiss, bis vor kurzem seine Geliebte.
Im Laufe des Abends flammt die Leidenschaft zwischen Leonie und Carsten nochmals auf, die beiden schleppen sich angetrunken ins Gästehaus. Dort will Leonie allerdings keinen Sex, doch Carsten ignoriert ihr japsendes Nein und setzt seinen Willen durch.
Später erzählt Leonie ihrer Freundin Clara von diesen verstörenden 37 Sekunden, ohne jedoch Namen und Ort zu nennen. Für die praktizierende Rechtsanwältin Clara ist es keine Frage: Das war klar eine Vergewaltigung. Sie rät Leonie, den Peiniger anzuzeigen. Als sie später erfährt, dass es sich dabei um ihren eigenen Vater handelt, ändert Clara ihren Standpunkt. Sie verrät ihre Grundsätze und schaltet auf Kampfmodus, um die Musikkarriere ihres Vaters, seinen Ruf und nicht zuletzt den der ganzen Familie zu retten.
Die Situation eskaliert, es kommt zum offenen Konflikt und schliesslich zum Prozess. Und während Carstens gewiefter Anwalt keine Gelegenheit auslässt, Leonie zu diskreditieren, muss diese darum kämpfen, auf ihrer Wahrnehmung zu beharren, und sich aus der Opferrolle befreien.
«Wir haben einen ganzen Drehtag für diese eine zentrale Szene verwendet, damit wir uns an diesem Tag mit nichts anderem beschäftigen mussten.»
Die Schweizer Regisseurin Bettina Oberli über den Dreh der Vergewaltigungsszene.
Die sechsteilige Serie beleuchtet die Frage der Grenze zwischen einvernehmlichem Sex und Vergewaltigung aus so vielen Blickwinkeln wie möglich und behandelt das schwierige, doch sehr wichtige Thema vielschichtig. Drehbuchautorin Julia Penner begann mit der Entwicklung des Serienkonzepts bereits einige Monate bevor die «MeToo»-Debatte wie eine Bombe einschlug und alles veränderte. Ihr war es wichtig, alle Perspektiven «so sinnlich, so ambivalent und so komplex wie möglich» auszuleuchten. Auch die des Täters.
Und so erzählt «37 Sekunden» alles andere als einseitig von sexueller Ausbeutung im Showgeschäft – ein Thema, das der Fall des Rammstein-Frontmanns Till Lindemann kürzlich wieder in den Fokus der öffentlichen Diskussion rückte.
Regisseurin Bettina Oberli (50) wollte das Thema als Serie verpacken: «Man hat so mehr Erzählzeit zur Verfügung als bei einem Spielfilm und kann sich den Figuren und ihren Perspektiven differenzierter nähern.» Die Schweizer Filmemacherin hatte allerdings nur 48 Drehtage zur Verfügung, was für eine sechsteilige Serie sehr wenig ist. Dennoch entschied sie sich, für die zentrale Vergewaltigungsszene einen ganzen Drehtag einzusetzen, damit sich Crew und Schauspieler an diesem Tag mit nichts anderem beschäftigen mussten.
Auch wenn einige Szenen in der hervorragend besetzten Serie auf den Zuschauer da und dort etwas konstruiert oder abrupt wirken, liefert «37 Sekunden» einen wertvollen Diskussionsbeitrag zum Thema Vergewaltigung versus einvernehmlicher Sex.
Zudem befeuert sie die Debatte weiter, ob ein «Nein heisst nein» reicht – oder ob es eben doch die sogenannte Konsens- und Zustimmungslösung «Nur ja heisst ja» bräuchte.
ARD | Dramaserie | D 2023
Mit Jens Albinus, Paula Kober, Emily Cox, Denise M’Baye; Regie: Bettina Oberli
Di., 15. August (1–3/6), 22.50 Uhr
Di., 22. August (4–6/6), 23.05 Uhr
ARD
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