«Wir retten diese Kinder vor der Armut!», fährt die Leiterin der Kinderschutzbehörde ihre unerfahrene, sichtlich schockierte Kollegin an. Dieser Satz bedeutet das Ende einer idyllischen Kindheit und markiert gleichzeitig den Anfang einer beklemmenden Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht.
Der kanadische Sechsteiler «Little Bird» erzählt von einer Frau auf der Suche nach ihren Wurzeln. 1968 wird das fünfjährige indigene Mädchen Bezhig Little Bird (Keris Hope Hill) von einem Paar aus Montreal adoptiert und wächst als Esther Rosenblum (Darla Contois) wohlbehütet in einem jüdisch geprägten Umfeld auf. Obwohl gerade die Beziehung zu ihrer Adoptivmutter Golda («Dr. House»-Star Lisa Edelstein) sehr eng ist, fühlt sich Esther den elitären Kreisen Montreals nie wirklich zugehörig.
Nach einem Eklat an ihrer Verlobungsfeier reist sie – inzwischen Anfang zwanzig und angehende Rechtsanwältin – Hals über Kopf in ihre alte Heimat: ein Reservat in der Provinz Saskatchewan. Wiederkehrende Erinnerungsfetzen deuten auf eine Kindheit in einfachen, aber äusserst liebevollen Verhältnissen hin. Bis eben zu jenem verhängnisvollen «Wir retten diese Kinder vor der Armut!».
Womöglich redeten sich die Mitarbeitenden der kanadischen Regierung tatsächlich ein, sie würden etwas Gutes tun, als sie Tausenden von indigenen Familien ihre Kinder unter meist fadenscheinigem Vorwand entrissen. Wahrscheinlich beruhigten sie damit aber vor allem ihr schlechtes Gewissen. Diese später «Sixties Scoop» genannte Politik dauerte bis weit in die 1980er-Jahre und erinnert an das dunkle Kapitel «Kinder der Landstrasse», in dessen Rahmen auch in der Schweiz jahrzehntelang Kinder in Heime gesteckt und zur Adoption vermittelt wurden. So wie in «Little Bird» die kleine Bezhig/Esther und zwei ihrer drei Geschwister.
«Jeder indigene Mensch in Kanada ist irgendwie vom ‹Sixties Scoop› betroffen.»
Die Dramaserie lässt einem oft kaum Luft zum Atmen. Das liegt nicht am Tempo – im Gegenteil. Die Bildsprache ist extrem ruhig. Oft wünscht man sich das Ende einer Szene herbei, wird aber gezwungen, die Situation auszuhalten – bis die Zigarette geraucht oder die Autofahrt zu Ende ist. Und wird auf diese Weise komplett in die Gefühlslage von Esther versetzt.
Der eindringliche, fast anklagende Soundtrack intensiviert die Atmosphäre zusätzlich. Ein tragendes Element der Handlung sind die Zeitsprünge in die Kindheit – oft nur angedeutet durch ein paar Pflanzenhalme, die sich im Wind der kanadischen Prärie bewegen. Das häufige Hin- und Herspringen ist zuweilen etwas anstrengend, hilft aber auch zu verstehen, wie zerrissen sich die junge Protagonistin zwischen den beiden Welten fühlen muss.
Tatsächlich findet Esther einen Teil ihrer Familie wieder. Trotz behutsamer Annäherung lassen sich die gestohlenen Jahre nicht einfach so zurückholen, aber womöglich lässt sich etwas Neues aufbauen. Gleichzeitig spürt Esther, dass sie das Band zu ihrer jüngeren Vergangenheit nicht endgültig zerschneiden, sondern vielmehr die Möglichkeiten ihres prädestinierten Lebens als Anwältin nutzen will.
Beim Canadian Screen Award, dem wichtigsten Film- und Fernsehpreis des Landes, der Ende Mai verliehen wird, ist «Little Bird» gleich 19 Mal nominiert. Was auffällt: Die zwei Drehbuchautorinnen Jennifer Podemski und Hannah Moscovitch wie auch die Regisseurinnen Elle-Máijá Tailfeathers und Zoe Leigh Hopkins haben selber indigene Wurzeln.
Ebenso Darla Contois, die beim Screen Award gute Chancen auf den Preis als «Beste Hauptdarstellerin» hat. Ihr Vater entstammt dem Volk der Cree-Saulteaux und erlebte den damaligen «Schutz» dieser Kinder am eigenen Leib. Die kanadische Schauspielerin sagte denn auch kürzlich in einem Interview: «Jeder indigene Mensch in diesem Land ist in irgendeiner Art und Weise vom ‹Sixties Scoop› betroffen. Jeder einzelne.»
Miniserie
Mit Darla Contois, Lisa Edelstein, Ellyn Jade
CDN 2023
Donnerstag, 23. Mai 2024, 21.45 Arte (alle 6 Folgen am Stück)