Sie heben ab, mitten auf der Tanzfläche, schweben gemeinsam in der Luft, über all dem Spiessertum dieser Welt, übermütig wie einst Ikarus, blenden die Gefahren, den Absturz aus, die Kinder vom Bahnhof Zoo.
Wie ein roter Faden zieht sich das trügerisch-verführerische Gefühl der eigenen Unsterblichkeit durch die Neuauflage der weltberühmten Geschichte von Christiane F. und ihrer Berliner Drogenclique.
Seit 1978 lässt das autobiographische Buch Millionen von Eltern das Blut in den Adern gefrieren. Noch heute wird es in vielen Schulen zur Drogenprävention eingesetzt. 1981 kam der gleichnamige Film in die Kinos. Exakt 40 Jahre später bringt Prime Video nun eine moderne Neuauflage heraus.
Da schluckt man erst mal heftig. Denn diesen Film von 1981 vergisst man nie mehr: Die beklemmenden, fast unerträglichen Momente in versifften U-Bahn-Klos und zugemüllten Plattenbauten, die verstochenen Arme und leeren Blicke der jugendlichen Heroinsüchtigen. Mittendrin Christiane F., die unaufhaltsam dem Abgrund entgegenrast.
Da ist klar, dass die Macher sich Vergleiche mit dem Film gefallen lassen müssen, obwohl man sich mehr am Buch orientiert habe, wie es heisst. Das Auffälligste: Die Serie nimmt den Fokus weg von Christiane, erzählt vielmehr die Geschichte der ganzen Clique.
Trotz tollen Schauspielern liegt hier der grösste Schwachpunkt: Sie sind zu alt. So war die Österreicherin Jana McKinnon bei den Dreharbeiten fast 21 Jahre alt, als sie den Teenager Christiane spielte.
Wenn sie sich einen Schuss setzt oder in einem schmuddligen Auto einen Freier bedient, ist das natürlich sehr heftig. Und doch erzeugt es beim Zuschauer nicht die gleiche Fassungslosigkeit wie bei ähnlichen Szenen im Film. Denn die damalige Hauptdarstellerin Natja Brunckhorst war beim Dreh gerade mal 13 Jahre alt und dadurch wirklich noch ein Kind, das durch die Hölle des Bahnhofs Zoo ging.
Immer wieder arbeitet die Serie mit Traum- oder Rauschsequenzen, etwa wenn Christianes Freundin Babsi (Lea Drinda) mit ihrem offensichtlich toten Vater spricht oder eine Art Henkergestalt der wartenden Christiane zum ersten Mal Heroin in die Venen spritzt.
Angekündigt ist die Serie als moderne Neuauflage, was aber nicht bedeutet, dass die Geschichte in die Gegenwart verlegt wurde: Die Musik läuft noch ab Kassette, und überall wird geraucht.
Auch die junge Liebe zwischen Christiane und Benno (der in Buch und Film Detlef heisst) bleibt in der Serie einer der zentralen und stärksten Handlungsstränge. Im Laufe ihrer zerstörerischen Beziehung teilen sie Spritzen, Freier und den Traum eines drogenfreien Lebens.
Die echte Christiane F. kam auch nach der Geburt ihres Sohnes 1996 nie ganz von den Drogen los. Die heute 58-Jährige leidet unter einer Leberzirrhose und hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Detlef hingegen schaffte den Ausstieg und arbeitet in Berlin als Busfahrer.
Und aus Christiane-Darstellerin Natja Brunckhorst wurde eine erfolgreiche Drehbuchautorin. Ihr Filmkollege Thomas Haustein, der den Detlef spielte, schlug einen überraschenden Weg ein: Bis heute ist er in den Strassen Berlins als Sozialarbeiter unterwegs und hilft Jugendlichen mit Drogenproblemen.
Prime Video | Dramaserie | 1. Staffel | D 2021 | Acht Folgen à ca. 50 Min.
Eindrücklich, aber nicht ganz so erschütternd wie der Film
ab 19. Februar
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