Das Grauen breitete sich dort aus, wo niemand das Grauen je vermutet hätte. Es überfiel eine Gegend, in welcher der einsame Förster mit Bäumen sprach. Prächtige Natur dominierte die Szenerie. Ansonsten schlummerte das Kaff friedlich vor sich hin.
Jedenfalls bis zu jenem Wintermorgen, als am Fluss die Leiche einer blutjungen Frau auftauchte und die Bewohner von Twin Peaks wie mit einer Schreckschusspistole aus dem Traum der Sorglosigkeit riss.
Laura Palmer war tot. Ermordet. Der Dämon der Vernichtung hatte der Gemeinschaft ihr hübschestes und beliebtestes Geschöpf geraubt. Laura, dieser Sonnenschein, leuchtete nicht mehr.
An jenem eiskalten Morgen verlor die Idylle ihre vermeintliche Unschuld. Jeder im Dorf war Zeuge der teuflischen Heimsuchung in Twin Peaks – höchste Zeit für das FBI. Für Dayle Cooper. Special Agent Dayle Cooper (Kyle MacLachlan).
8. April 1990: ABC strahlt den Pilotfilm zur ersten achtteiligen Staffel von «Twin Peaks» im US-TV aus. 35 Millionen verfolgen den Pilot, was einem gigantischen Marktanteil von 33 Prozent entspricht.
Kein Wunder, bittet ABC die Erfinder David Lynch und Co-Autor Mark Frost gleich um eine 2. Staffel. An eine Bedingung geknüpft: Laura Palmers Mörder müsste in den neuen 22 Folgen enthüllt werden!
Lynch und Frost zögern zuerst. Schliesslich hatten beide andere Drehbuchpläne. Den Mörder von Laura sollte nie jemand finden. Am Ende fügten sie sich. In Folge 15 wurde der Mörder entlarvt. Kein kluger Entscheid. Doch dazu später.
Als 1986 in David Lynchs Hirnzellen die ersten Ideen für «Twin Peaks» herumgeisterten, bejubelten Kritiker noch sein düsteres Meisterwerk «Blue Velvet», diesen ultimativen Film-noir-Trip in die Abgründe der menschlichen Seele.
«Twin Peaks» setzte Lynchs Mission im Dienste der cineastischen Irritation nahtlos fort. Und der Maestro legte zusammen mit Mark Frost eine zusätzliche Schippe Surrealismus drauf. Sie inszenierten eine Mörderjagd als Mystery-Soap, eingebettet in eine erhabene Naturkulisse. Passend dazu der Look der Protagonisten: geerdet. Die Girls trugen Wollpullover und schwere Röcke bis über die Knie, während sich die Jungs in Holzfällerhemden und schwarze Lederjacken hüllten.
Die Charakterisierung der Hauptakteure entsprach einer klassischen Soap-Architektur. Tragende Rollen spielten unter anderem: Donna, die Aufrichtige (Lara Flynn Boyle), Audrey, die Intrigantin (Sherilyn Fenn), oder auch James, der Frauenschwarm (James Marshall).
So weit, so klischiert. Doch da waren ja noch die unzähligen Lynch-typischen Freaks, Fabelwesen und Psychopathen. Er flocht die Figuren perfekt dosiert in den Handlungsstrang ein. Etwa den kriminellen Choleriker Leo (Eric DaRe), «die Frau mit dem Holzscheit» – und natürlich «Bob». Lynch und Frosts imaginärer Horrorpate, der Dämon des Todes, der die menschliche Seele in Besitz nahm, sie manipulierte und zersetzte.
«Bob» war der unsichtbare Gegenspieler des wahren Helden von Twin Peaks – Special Agent Dayle Cooper. Aus Washington herbeigesandt, um das Verbrechen aufzuklären, agierte der frohmütige Cooper wie eine Art Klempner für manch verunsicherte Dörflerseele.
Fern jeglicher Grossstadtarroganz genoss er den Aufenthalt in einer Gegend reinster Luftqualität, als sei es ein Kuraufenthalt. Am meisten beeindruckte ihn der herrliche Kaffee, der hier serviert wurde.
Cooper bevorzugte ihn schwarz. Ohne Zucker. Mindestens einmal pro Folge jauchzte er: «Verdammt guter Kaffee!» Drei Worte, die zum Leitspruch der Fangemeinde wurden. Auch in Europa.
Doch im Gegensatz zu den USA blieb «Twin Peaks» speziell im deutschsprachigen Raum der Massenerfolg verwehrt. Verständlich: Die Serie entsprach so gar nicht dem neuen europäischen Zeitgeist. Techno war Trumpf. Friede, Freude, Eierkuchen. Lynchs skurriles Soap-Mysterium mit visuellen Einflüssen der 50er-Jahre wollte irgendwie nicht in eine Zeit passen, die von Aufbruch und Party für alle geprägt war.
Immerhin: Kultstatus erlangte das Format trotzdem. So trafen sich auch in der Schweiz eingeschworene Fans zu Public-Viewings in Szenebars. Die Mädels trugen Wollröcke, die Jungs Holzfällerhemden. Man spekulierte, wer der Mörder sein könnte, und trank dazu oft nur eines: schwarzen Kaffee. Ohne Zucker.
Und dann war es endlich so weit. Im Schlussakt von Folge 15 fiel der Schleier: Der von «Bob» infizierte Mörder zeigte sein wahres Gesicht. Ein ultimativer Gänsehautmoment. Was für ein Finale!
Leider starb dabei gleichzeitig das Interesse an den weiteren Folgen. Die Luft war draussen. Wie schon in den USA geschehen, bewirkte die Auflösung des Falls eine Flucht bei den Zuschauern. Die Forderung von ABC, der Mörder müsse bereits in Staffel 2 entlarvt werden, beerdigte die Serie vorzeitig.
Zwar produzierten Lynch und Frost 1992 noch einen in Drogenexzessen getränkten Spielfilm, der die letzten Wochen von Laura Palmer vor ihrem Tod nachzeichnete. Doch «Fire Walk with Me» floppte im Kino. Und die verspätete 3. Staffel wurde 2017 trotz guten Kritiken nur am Rande wahrgenommen.
Nun, sei’s drum. Zum Schluss ein kleiner Tipp: «Bobs» Fratze kann schlaflose Nächte verursachen. Also statt einer Tasse Kaffee lieber ein Glas schweren Roten einschenken.
Das hilft beim Einschlummern. Leider nicht gegen Albträume.
Paramount+ | Mysteryserie | 3 Staffeln
Mit Kyle MacLachlan, Sherilyn Fenn, James Marshall
Subtiler Schocker mit Witz.
USA 1990/91 & 2017, verfügbar