Die erste Kameraeinstellung sieht nach nichts, sagt aber viel aus: Eine Brille mit dickem Gestell liegt auf einem Nachttisch. Es ist eine Nachbildung jener Brille, die Michael Caine 1965 in der ersten Verfilmung des Spionageromans «The Ipress File» von Len Deighton trug und mit der er als Antiheld Harry Palmer schon rein visuell ein totales Kontrastprogramm zum Superagenten James Bond bot.
In dieser sechsteiligen Serie nun liegt Palmer (Joe Cole) im Sixties-Berlin im Bett, während ihm seine Deutschlehrerin keck aus dem Badezimmer zuwinkt. Den Durchblick erhält Palmer erst mit dem Aufsetzen der Brille.
Weit kniffliger ist die Entführung eines Wissenschaftlers aus einem Atomwaffen-Forschungslabor. Als Täter kommen nur Schergen des Kreml in Frage. Die Russen wollen vom Forscher wissen, wie man eine Neutronenbombe herstellt, die 3000 Mal zerstörerischer ist als jene, die Hiroshima traf.
Glücklicherweise handelt es sich bei dieser Inhaltszusammenfassung um eine Serien-Kritik und nicht um eine Newsmeldung. Doch allfällige Parallelen zur aktuellen Weltlage sind unübersehbar, auch wenn die Filmemacher um Drehbuchautor John Hodge und Regisseur James Watkins nicht ahnen konnten, dass ihre potenziellen Zuschauerinnen und Zuschauer allesamt Statisten in einer realen Fortsetzung des Kalten Krieges sind.
Genug der Vergleiche. Endlich kommt hier mal wieder eine Agentenserie mit viel Atmosphäre, punktueller Spannung und einem Katz-und-Maus-Spiel, das über kurz oder lang in seinen Bann zieht. Während Agent 007 insbesondere zu Zeiten von Sean Connery, Roger Moore und Pierce Brosnan ein unnahbarer Supermann bleibt, kommt man der Figur des Harry Palmer immer näher, fiebert an mancher Stelle richtig mit ihm mit.
Der Cast kommt exzellent daher: «Bohemian Rhapsody»-Star Lucy Boynton ist eine gute Besetzung als schöne, aber kalte und verbitterte Agentin Jean Courtney, die sich auf durchaus glaubwürdige Weise für Palmer erwärmt. Tom Hollander liefert ebenfalls eine hervorragende Leistung als pragmatischer Spionageveteran Major Dalby ab, der in seiner Vergangenheit gefangen ist. Und Joe Cole entspricht gerade nicht dem Stereotyp des britischen Agenten, bleibt oft stumm und erschafft sich damit eine eigene Aura.
So gesehen sollte man auch einen Vergleich der Harry-Palmer-Interpreten Michael Caine und Joe Cole lieber sein lassen. Beide überzeugen in ihrer Rolle als Harry Palmer. Halt jeder auf seine Art, Brille hin oder her.
Sky Show | Miniserie
Mit Joe Cole, Lucy Boynton, Tom Hollander
GB 2022, ab 15. August 2022