Ein Baby kommt auf die Welt, der Arzt schaut es an, findet, dieses Baby sei noch nicht reif für die abgefuckte Welt – und schiebt es wieder in die Frau hinein. Es ist eine der vielen surrealistischen Szenen im neuen Werk von Alejandro G. Iñárritu (59; zweifacher Oscargewinner für die Broadwaysatire «Birdman» und den Neo-Western «The Revenant»).
Es ist der erste Film, den der Mexikaner für den Streamingdienst Netflix drehte. Und er ähnelt darin ein wenig «Roma» (2018), dem halbautobiographischen Schwarz-Weiss-Drama seines Landsmannes Alfonso Cuarón über das Aufwachsen in Mexiko City.
Auch Iñárritu kehrte für den Film nach Mexiko zurück und baut Persönliches mit ein. Haupfigur ist der in Kalifornien lebende Dokfilmer Silverio (Daniel Gimenez Cacho): Bevor dieser in Los Angeles einen Preis erhält, besucht er mit seiner Familie seine alte Wohnung in Mexiko City.
Dort vermischen sich bald Erinnerungen mit Träumen und bevorstehenden Filmprojekten: So sieht Silverio den Eroberer Hernán Cortés (1485–1547) auf einer Pyramide toter Indios stehen. Je mehr er in die Phantasie abdriftet, desto stärker rutscht er in eine Identitätskrise.
Diese Mischung wirkt oft etwas wirr, selbstverliebt, hermetisch verschlüsselt und hat nicht die emotionale Wärme von «Roma». Einzelne Szenen sind allerdings visuell brillant: zum Beispiel wenn Silverio durch die Strassen wandelt und die Leute plötzlich tot umfallen – als Symbol für die vielen «Vermissten» in Mexiko.
Auch eine Szene, in der Silverio geschrumpft seinem toten Vater begegnet und bedauert, dass er ihm nie viel erzählt hat, geht unter die Haut. Die Kamera führte kein Geringerer als Darius Khondji («Seven»). Neben Familiärem geht es um die Tücken des Erfolgs, um Heimat und um die Frage, wo er eigentlich zu Hause ist.
Für die Amis ist Silverio ein Latino, für die Mexikaner ein reicher Gringo, ein Privilegierter. Trotz Stückwerk und Überlänge hat «Bardo» einiges zu bieten.
Netflix | Drama
Mit Daniel Gimenez Cacho, Griselda Siciliani
MEX 2022, ab 16. Dezember 2022