Um Marvel kommt man nur schwer herum. Die Comics des Verlags prägen seit acht Jahrzehnten die Popkultur, alle paar Monate wird eine neue TV-Serie aufgegleist – und dann sind da auch noch die Filme im Marvel Cinematic Universe (MCU). Angefangen mit «Iron Man» im Jahr 2008, steigerten sich deren Zuschauerzahlen ins Unermessliche.
«Avengers: Endgame» ist mit 2,8 Mrd. Dollar der einspielstärkste Film aller Zeiten. In den Top 30 folgen weitere acht Marvel-Produktionen. Bedenkt man, dass Disney sich 2009 Marvel für schlappe vier Milliarden Dollar unter den Nagel riss, dürfte dies einer der lukrativsten Einkäufe der Filmgeschichte gewesen sein: Bis heute spielten allein die Filme des MCU über 22 Milliarden ein. Und Disney wird dafür sorgen, dass die Verdauung seines Goldesels noch lange in Schwung bleibt.
Doch man muss dem Konzern auch zugutehalten, dass er nicht einfach neue «Avengers»-Filme am Fliessband dreht, sondern ab und zu auch mutiger vorangeht. So bekam etwa der für seine schrägen Ideen bekannte Indie-Regisseur James Gunn die «Guardians of the Galaxy» zugesprochen, bei «Black Panther» übernahmen Afroamerikaner die Zügel, bei «Captain Marvel» Frauen. Natürlich dient das in erster Linie dazu, die Marke Disney allen potenziellen Kunden schmackhaft zu machen, doch wenn Imagepflege auch dem Zuschauer was bringt: umso besser.
«Jede Episode steht für sich – und wir liessen den Regisseuren freie Hand.»
Jason Sterman, Executive Producer
«Marvel’s 616» ist nun eine Art Liebesbrief an diesen ganzen Kosmos. Macher und Fans kommen in den acht Episoden gleichermassen zu Wort. So ist die erste Episode etwa dem japanischen Spider-Man gewidmet, der seit 1978 existiert, als Marvel die Lizenzrechte nach Japan verkaufte. Eine Episode also, die man unter «Marvel global» zusammenfassen könnte.
Eine andere Episode knöpft sich Cosplay vor: wenn Fans in beflissener Heimarbeit die Kostüme ihrer Lieblinge basteln, um diese dann an Fan-Conventions vorzuführen.
Wieder eine andere ist den Frauen gewidmet, die in einer stark männlich dominierten Fankultur
ihren Platz erobert haben – etwa Sana Amanat, die 2014 eine muslimische Superheldin bei Marvel einführte. Aber auch Sammler und Künstler kommen zum Zug – oder Superhelden, von denen kaum jemand gehört hat. Eben: der ganze Mythos Marvel. Der Serientitel bezieht sich auch nicht umsonst auf Erde 616, «unsere» Erde im Multiverse der Marvel-Comics.
«Jede Episode steht für sich», erklärte der Executive Producer Jason Sterman an der ComicCon 2020. «Wir liessen den Regisseurinnen und Regisseuren freie Hand, ihre eigenen Geschichten zu erzählen, und gaben keine Themen vor.»
Ob das nur Marketing-Sprech ist, wird sich zeigen – denn die Marvel-Fans sind nicht nur zahlreich, sondern auch leidenschaftlich.
Würden sie bei Marvel Selbstbeweihräucherung entdecken, verpuffte der Hype rascher, als Thanos mit dem Finger schnippen kann.
Disney+; Dokuserie, 1. Staffel
Regie: Alison Brie, David Gelb, Gillian Jacobs, Brian Oakes, Sarah Ramos u. a.
Querschnitt durch den unermesslichen Marvel-Kosmos
USA 2020, ab 20. November