Prostituierte, die sich die Füsse plattstehen, Drogenabhängige, die auf den Dealer warten, grölendes Ausgehvolk plus ein vibrierendes Multikulti-Gemisch: Gibt es einen besseren Schauplatz für einen Schweizer Krimi als die Zürcher Langstrasse?
Kein Wunder, haben sich schon etliche Filme mit der berüchtigten Sündenmeile beschäftigt – von Kurt Frühs Klassiker «Bäckerei Zürrer» (1957) über den atmosphärisch dichten «Strähl» (2004) mit Roeland Wiesnekker als krisengeplagter Drogenfahnder bis zum etwas gar selbstverliebten «Soul of a Beast» (2021).
Nun hat auch Michael Steiner (54, «Wolkenbruch», «Mein Name ist Eugen», «Grounding») dieses harte Pflaster für seinen neuen Film inspiziert. Sein Thriller «Early Birds» spielt zum grossen Teil an der Langstrasse, von der «Olé-Olé-Bar» bis zum «Palestine-Grill». Und Steiner schreckt dabei auch nicht vor expliziter Gewalt zurück.
Im Mittelpnkt stehen Annika (Nilam Farooq) und Caro (Silvana Synovia). Als Annika Zeuge eines schiefgelaufenen Kokaindeals wird, bei dem ihr Liebhaber stirbt, schnappt sie sich die Tasche mit Koks und viel Geld. Verängstigt versteckt sie sich vor der Polizei in der Wohnung der Krankenpflegerin Caro.
Doch diese will Annika nicht mit dem Geld ziehen lassen. So hauen die beiden gemeinsam mit der Tasche ab. Ihr Ziel ist ein Chalet in Leysin VD. Hinter ihnen ist aber ein brutaler Dealer her. Und auch der Polizeikommissar (Anatole Taubman) hat sie im Visier.
«Early Birds» beginnt vielversprechend, mit viel Vorwärtsdrive und agiler Kamera, die Pascal Walder führt, ein langjähriger Weggefährte von Steiner. So hasten wir mit Annika von der Party auf die Strasse, in die Wohnung, über Balkone und wieder runter, auch wenn nie klar wird, warum sie eigentlich von der Polizei verdächtigt wird.
Die Flucht der zwei Frauen hat eine Frische, die an Tanners «Messidor» oder «Thelma & Louise» erinnert. Vieles ist überdreht, die Männer böse, ein Spiel mit Genre-Klischees, doch spätestens ab dem Chalet im verschneiten Leysin verliert die Story an Glaubwürdigkeit. Vor allem Taubmans Figur des Polizisten ist ein Blindgänger. Statt Tiefe überwiegen am Schluss Rasanz und Gewaltexzesse.
«Early Birds» wurde als erster Schweizer Spielfilm (Budget: 4 Millionen) von Netflix koproduziert. Steiner schwärmt: «Normalerweise geht es mindestens vier Jahre, bis ein Film durch alle Fördergremien zurechtgestutzt und durchproduziert ist, hier waren es zwei Jahre.» Netflix wolle wie er Filme machen, die das Publikum unterhalten. Unterhaltsam ist «Early Birds» sicher. Und dank Netflix wird er so viele Zuschauer haben wie wenige CH-Filme.
Thriller
Mit Nilam Farooq, Silvana Synovia, Anatole Taubman
CH 2023, ab 12. Oktober 2023 im Kino