Ohne absolutes Musikgehör geht wohl absolut nichts, wenn man ein klassisches Orchester auf Top-Niveau dirigiert. «Maestro» nennen die Musiker Lydia Tár (Cate Blanchett) respektvoll. Sie ist Dirigentin der Berliner Philharmoniker und hat eine Bilderbuchkarriere hinter sich.
Als Krönung will sie alle Symphonien von Gustav Mahler aufführen, als letzte fehlt ihr noch die berühmte 5., für die sie nun die Proben leitet. Doch ausgerechnet jetzt häufen sich die Probleme. Eine junge Musikerin, die sie einst gefördert hatte und später fallen liess, hat sich umgebracht. Ihre private Beziehung zur Violinistin Sharon (Nina Hoss) ist abgekühlt. Und bei einem Seminar stellt sie einen Studenten bloss, der sich weigert, Bach zu spielen, weil der frauenfeindlich sei. Das führt zu einem Shitstorm im Netz.
16 Jahre drehte der Kalifornier Todd Field (59, «In the Bedroom») keinen Film, jetzt legt er einen vor, der so komplex ist, als hätte er jahrelang das Leben einer Dirigentin studiert. Dabei ist die Figur fiktiv.
Vom Heraushören der Nuancen im Orchester über die Schwierigkeit, heikle Personalentscheide zu treffen, bis zum Essen mit einem Investor: Fields moduliert Tár lebensnah, dringt in den Resonanzboden der Figur vor. Das ist teils ausufernd, oft pointiert, zeigt aber auch die Schattenseiten des elitären Berufs – etwa wenn Tár ohne Skrupel eine Cellistin durch eine bessere ersetzt oder in die Wokefalle tappt.
Aussie-Star Cate Blanchett (53), der Field die Rolle auf den Leib geschrieben hat, ist eine Offenbarung und dürfte dafür Oscar Nr. 3 holen. Sie ist passioniert, wenn sie beim Dirigieren die Haare verwirft, autoritär mit den Musikern und irritiert genervt, als ihr organisiertes Leben sich in Dissonanzen auflöst. Die Frau mit dem perfekten Gehör hört plötzlich Dinge, die andere nicht hören, was Field als subjektive Ebene einbaut.
Es gehe in der Musik um Fragen, nicht um Antworten, sagt Tár mal. Das gilt auch für den Film: Er setzt wegen der Länge Geduld voraus, belohnt aber mit enormer Tiefe.
Drama
Mit Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merlant, Adam Gopnik
USA 2022, ab 23. Februar 2023 im Kino