Wahre Verbrechen faszinieren die Menschen. Das zeigen schon allein die Dokumentationen, Fiktionalisierungen und Podcasts zum Thema, die in den vergangenen Jahren fast wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Die Schweizer Schriftstellerin Michèle Minelli schilderte in ihrem 2015 veröffentlichten Roman «Die Verlorene» einen Mordfall aus dem Archiv der St. Galler Polizei. Die 2022 für den Kurzfilm-Oscar nominierte Regisseurin Maria Brendle machte daraus nun einen Spielfilm, dessen Drehbuch sie mit Minelli zusammen verfasste.
St. Gallen, 1904. Im Hagenbuchwald wird die Leiche des fünfjährigen Ernst gefunden. Er war der Sohn der jungen Schneiderin Frieda Keller (Julia Buchmann), der bis vor wenigen Wochen in der «Kinderbewahranstalt» gelebt hatte. Ohne grosse Umschweife gesteht Frieda, Ernstli erwürgt zu haben. Der politisch ambitionierte Staatsanwalt Walter Gmür (Stefan Merki) will an ihr ein Exempel statuieren. Friedas Schwester Bertha (Liliane Amuat) bittet den progressiven Anwalt Arnold Janggen (Max Simonischek), die Verteidigung zu übernehmen. Er versucht zu helfen, doch Frieda schweigt lange zum Tatmotiv.
Einerseits bringt «Friedas Fall» dem Publikum die wahre Geschichte näher, andererseits nimmt sich der Film wie die Vorlage willkommene Freiheiten. Das sorgt für zusätzliche Dramatik und zeichnet ein valables Porträt der damaligen Gesellschaft mit einem besonderen Augenmerk auf ihr Frauenbild – und das wohlgemerkt aus dem Blickwinkel der Frauen selbst: neben dem der Schwestern Frieda und Bertha auch den von Gmürs Gattin Erna (Rachel Braunschweig) und Janggens deutscher Ehefrau Gesine (Marlene Tanczik).
Dass dies funktioniert, liegt neben Brendles angenehm unaufgeregter und doch emotional intensiver Inszenierung an der überzeugenden Besetzung. Allen voran Julia Buchmann, die in ihrem ersten Kinofilm der Titelrolle eine nuancierte Tiefe verleiht, die nachhaltig beeindruckt. Sie macht das ganze Ausmass der Tragik fassbar, die zum unbegreiflichen Kindsmord geführt hat, ohne ihn zu verharmlosen.
Frieda Keller (1879–1942) erhielt dafür übrigens ein Todesurteil, das kurz darauf in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt wurde. Nach 15 Jahren Einzelhaft kam sie aufgrund ihrer lamentablen körperlichen und geistigen Verfassung frei, erholte sich logischerweise aber nie von den erlittenen Torturen. Nicht zuletzt deshalb wirkt ihre Begnadigung aus heutiger Sicht regelrecht wie patriarchalischer Hohn.
Drama
Mit Julia Buchmann, Max Simonischek, Stefan Merki, Rachel Braunschweig, Marlene Tanczik, Liliane Amuat
CH 2024, ab 23. Januar 2025 im Kino